Text about NGO India

Das Leben als Reise – Marcellus Steiner

Frau_bringt_Feuerholz

Es ist kurz nach Sonnenaufgang. Gleißendes Licht erfüllt das Tal, in dem die Arbeitersiedlung „Newbasti“ liegt. Ein kleines, sandfarbenes Haus reiht sich an das andere, einstöckig und mit simplen Wellblech bedeckt. Ein junger Mann tritt durch eine schmale Holztür nach draussen. Er kneift die Augen zusammen und seine helle, vom kargen Leben gegerbte Haut wirft tiefe Rillen. Mit einer Hand schiebt er eine Strähne seiner kinnlangen, blonden Haare aus dem Gesicht, mit der anderen greift er den metallenen Eimer, der sich neben seiner Eingangstür befindet und läuft, nur mit Dhoti, Weste und Slippers bekleidet, über den staubigen Sandweg, der entlang der Siedlung verläuft.

Ein paar hundert Meter sind es bis zum heiligen Fluß Ganges, wo er, wie jeden Morgen, seinen Körper reinigt und anschließend den Eimer mit Wasser füllt. Einen Moment noch hält er inne, lässt seinen Blick über die weite Landschaft gleiten – er freut sich, endlich wieder hier zu sein, in seiner Heimat.

Der 1973 in der Schweiz geboren und aufgewachsene Künstler Marcellus Steiner hat sich nach mehreren Reisen durch Europa, Afrika und Asien im Jahr 2006 entschieden, die kleine, im Norden Indiens gelegene Stadt Haridwar zu seiner Heimat zu machen. Blond und hellhäutig, einen unverwechselbaren schweizer Akzent in seiner Sprache, trieb eine unbestimmte Sehnsucht ihn zur Reise, weiter, immer weiter, ohne klares Ziel. Bis er nach Haridwar kam. Dort liegt heute sein Atelier und Wohnhaus sehr idyllisch, umringt von Natur. Gerade ist er von einer mehrwöchigen Reise in die Schweiz zurückgekehrt, während der er unter anderem eine Ausstellung durchführte und bei seinen Eltern lebte.

Was für ein Mensch ist es, der soziale Bande, Hab und Gut seiner vertrauten Heimat verläßt, mit dem festen Vorsatz, nicht mehr zurückzukehren und wenn, dann nur als Besucher. Was trieb ihn dazu, sein Leben als Reise zu begreifen und unnachgiebig immer weiter nach seiner Heimat zu suchen, bis er sie dann letztendlich doch in Indien finden konnte?

Das Stadtviertel Newbasti und gilt als Arbeitergegend. Marcellus hat sich sein Haus in dieser Gegend bewusst ausgesucht, denn er fühlt sich als Arbeiter, als einfacher Handwerker und fügt sich so nahezu selbstverständlich in die indische Gesellschaftsordnung ein. Manchmal übernachten pilgernde Sadhus auf ihrem Weg bei ihm,  aber sein Atelier ist nicht als Ashram gedacht, sondern der Ort, an dem er seiner Arbeit nachgeht, an dem Kunst entsteht. Ganz deutlich spricht er diese Worte aus, er kennt seine Aufgabe in diesem Leben.

In den vergangenen zwei Jahren ist sein Atelier zu einer kleinen Schule geworden. Kinder aus der Umgebung kommen nun immer häufiger, um bei dem hellen Neu-Inder zu malen und Marcellus sieht es gern, wie sie ihre junge, energiegeladene Phantasie in bunten Farben zu Papier bringen. Die Materialien hat er bisher selbst bezahlt, aber nun kommen immer mehr Malbegeisterte und Marcellus beginnt, Pläne für die Vermarktung der jungen Kunst zu schmieden.

Ab und an besucht er die Schweiz, um organisatorisches zu erledigen, Bilder auszustellen und zu verkaufen. Mittlereile sammelt er im Rahmen dessen auch Spendengelder, um gute Materialien für seine Schüler zu kaufen. Bald will er mit Hilfe der Spendengelder versuchen, auch einige Arbeiten der Kinder an potentielle Käufer zu vermitteln. „Von den Spendengeldern will ich ihnen die Bilder abkaufen, sie dann in die Schweiz nehmen und dort versuchen sie auszustellen und zu verkaufen.“

Bei diesen Worten schwingt Begeisterung in seiner Stimme. Er liebt es die Kinder um sich zu haben, zuzusehen, wie ihre Bilder entstehen. Die Malschule ist zu seiner Lebensaufgabe geworden.

Marcellus hat jedoch auch andere, düstere Zeiten erlebt. Fast ein wenig beschämt klingt seine Stimme, als er spricht: „Als ich in der Schweiz war, um zu malen, sahen mich die Menschen an, als sei ich ein Schmarotzer. Hier in Indien respektieren die Menschen, was ich tue und sie schätzen meine Bilder sehr.“

Auf die Frage, ob er denn sein Leben in der Schweiz nicht vermisse, lacht er und sagt: „ Sie müssen sich vorstellen, dass ich nur dann, wenn ich in der Schweiz zu Besuch bin, in diesem Komfort lebe. In Indien lebe ich unter viel einfacheren Umständen, ich lebe wie ein Sadhu, trage einen dhoti wie ein Sadhu. Mein Feuer brennt immer, Pandits kommen vorbei, um zu opfern und jeden Morgen hole ich Wasser vom nahegelegenen Fluß. In der Schweiz verkleide ich mich, um meine Bilder zu verkaufen, in Indien kann ich mich wohlfühlen. Ich habe mir das Leben in der Einfachheit bewußt ausgesucht.“

So spricht der Mann, hockt sich dann neben seine Feuerstelle auf den sandigen Boden und streicht sich nachdenklich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Seinen Lebensstil hat er völlig den örtlichen Gegebenheiten angepasst und ist gerne mit der Kultur, die ihn umgibt, alleine. Freunde hat er, auch wenn er die Sprache noch nicht allzu gut beherrscht – das ist nicht so wichtig. Eine tiefe Verbindung zu den ihn umgebenden Menschen spürt er, sie sind sehr herzlich und Worte brauchen sie dazu nicht.

Besonders fühlt der Künstler sich zu den einfachen Bettelpriestern hingezogen, die meist völlig zurückgezogen und asketisch leben. Ihre ruhige, in sich gekehrte Art scheint genau seinem Ideal zu entsprechen. Sadhus führen ihr Leben bewußt als einen Weg zur Erleuchtung.

Nach langem Schweigen erzählt der zurückhaltende Mann von einem Erlebnis, das ihn sehr beeindruckt hat. Vor einigen Jahren hielt er eine enge Freundschaft zu einem Sadhu. Er begleitete ihn bei seinem Alltag und reiste mit ihm zufuß monatelang durch Indien, ohne Hab und Gut. Einziges Gepäck war eine Reisschale, in der sie von den Bewohnern der auf ihrem Weg liegenden Häuser Essen erbaten. Irgendwann habe der weise Mann seinem Begleiter mitgeteilt, dass er seinen Körper verlassen wolle. Marcellus blieb bei ihm, erlebte seines Freundes letzte Vorbereitungen für den Tod und harrte aus, bis der Sadhu seinem Wunsch nachkam und verstarb.

Etwas später habe man bei Haridwar einen Tempel für den Heiligen gebaut und Marcellus Augen leuchten als er berichtet, dass immer noch viele dorthin pilgern, um dem weisen Mann zu opfern.

Ruhe liegt in seiner Stimme, er trauert seinem Freund nicht nach, denn er hat verstanden, dass dieser dem ewigen Kreislauf des Lebens und der Wiedergeburt entronnen ist.

Hin und wieder meditiert der Künstler auch, vertieft sich auf sein Innerstes, um es aus den Tiefen des Unterbewusstseins hervorzulocken. Er lässt seine Gedanken frei fließen, erst dann kann seine Inspiration die Leinwand übernehmen. Planen kann er ein Bild nicht, zumindest nicht durch und durch. In mühsamer Disziplin hat er als Autodidakt das Handwerk der Malerei erlernt, aber um ein wirklich nach den Sinnen greifendes Bild zu malen, reicht dies allein nicht aus. In seinen Bildern erzählt der Künstler Geschichten, die er erlebt hat oder gerade vor sich sieht. Manche malt er aus der Erinnerung, dann sind sie erfüllt von den Farben seiner Phantasie. Manche hingegen zeigen detailgetreue Momentaufnahmen, in denen der Künstler seine scharfe Beobachtungsgabe unter Beweis stellt. Vornehmlich im Stil des Neorealismus malt er seine nächste Umgebung, die Natur und die darin sich bewegenden Menschen.

In vielen seiner Bildern harmoniert der Mensch mit seiner Umwelt und wichtigen Kleinigkeiten, die ein Bild erst authentisch wirken lassen, werden plastisch. Einige Elemente hat er der Populärkunst Indiens entlehnt, so zum Beispiel auch die Blaufärbung der menschlichen Körper, die in einigen seiner Bilder zu sehen ist. Ein blauer Körper repräsentiert das Göttliche, wie auch bei den grellen indischen Götterpostern häufig zu sehen ist. Insbesondere diese bunten Bilder seien bei Indern beliebt, wohingegen Europäer sich mit den ungewohnten Farbeinteilungen schwertun, teilt der Künstler mit. Ein wenig erstaunt ist er darüber, er selbst kann sich bereits sosehr mit der facettenreichen und poppig-bunten indischen Symbolwelt identifizieren.

Ein ebenso zentrales Thema seiner Bilder wie der Mensch in seiner Umwelt ist das Zusammenspiel von Leben und Tod. „Auf Leben folgt unweigerlich irgendwann der Tod“ sagt Marcellus „Wenn ich die Äste eines bestimmten, sehr knorrigen Baumes ansehe, kann ich zugleich das neue Leben erkennen, das in vielen kleinen Trieben aus ihm sprießt, als auch den Tod, der durch verdörrte Äste repräsentiert wird.“ Ob unbemerkt oder im Vordergrund, das Spirituelle ist omnipräsent in seinen Bildern.

Aus der Ferne erkennt man in einigen Bildern unterschwellige Strukturen eines Totenkopfes. Er fügt sich zunächst fast unmerklich in die Konturen der Landschaften ein, um dann plötzlich wie eine dritte Dimension aus ihr hervorzutreten. Es ist, als ob man eine vom Künstler geschaffene Welt betritt. Das Selbstportrait „Begegnung mit der Finsternis“ zeigt, wie sehr Marcellus sich mit dem Glauben an den Kreislauf des Todes und der Wiedergeburten identifizieren kann. Er stellt sich selbst als Teil des Kreislaufs dar, indem er sich durch eine unbestimmbare Masse tastet, die von Blut und dunklem Tod gezeichnet ist. Nur wenige, helle Strahlen erleuchten die Bildfläche – sie symbolisieren das sprießende Leben. Der Mann, der einmal Schweizer war, ist selbst in Gedanken ein wahrer Inder geworden.

Einen sehr starken Willen scheint dieser Mann zu besitzen, der die Annehmlichkeiten Europas verlassen hat, um sich der Einfachheit des indischen Landlebens zu widmen. In seiner heutigen Umgebung  lebt er frei und wirkt unantastbar. Er hat sich der Hektik und den Pflichten der westlichen Zivilisation entzogen, um hier, in der Ruhe der indischen Landschaft jedes Detail der geliebten Umgebung in seine Malerei aufzunehmen.

Seit der Verlegung seines Ateliers nach Indien im Jahre 2006 sind seine Bilder einer ständigen Entwicklung unterworfen, immer neue Eindrücke nimmt der zurückgezogene Künstler in seine Bilder auf, macht unauffällige Kleinigkeiten zum zentralen Organ seiner Werke. Vor seinen  Augen ist jede Blume wichtig.

Wie sollte Marcellus  diese Blume, diese wunderbaren Kleinigkeiten in einem modernen Leben voller Aufregung und Hektik sehen und einordnen können?

Einstein schlief jede Nacht 12 Stunden, so lange brauchte sein Gehirn, um all seine Gedanken zu verarbeiten. Man stelle sich Einstein heute vor – meinen Sie, er könnte immer noch 12 Stunden schlafen, um dann entspannt an seinen Entdeckungen weiterzuarbeiten? – Die Antwort ist Nein. Heute wäre Einstein sicher abhängig von Koffeinprodukten oder anderen Wachmachern und sein Gehirn wirbelte viele geniale Gedanken durcheinander. Die wunderbare, geruhsame Ordnung der glühenden Gedanken in seinem Kopf, wäre verloren.

Marcellus hat sich seinen eigenen Heilsweg in Indien gesucht, fern der „Solls“ und „Mußs“ der westlichen Gesellschaft, aber auch fern des Überschwänglichen, des Überflusses und des Zeitdrucks. Hier kann er seine Spiritualität ungestört ausleben, den einzelnen Gedanken langsam reifen lassen, bis seine Energie die Hand erreicht und sich in vielen Farben auf die Leinwand ergießt.

Wir dürfen sehr gespannt sein, in welche Richtung der junge Künstler sich in nächster Zukunft entwickelt.

Weitere Informationen zu Marcellus Steiner finden Sie auf der Webseite:

http://www.marcellus-art.com

Standard
Literatur

LERNEN FÜR`S LEBEN FASZINATION INDIEN ■

AE019Indien, das Land der IT-Experten,

zeigt sich in ländlichen Regionen

von einer ganz anderen Seite. Lediglich

68 Prozent der Männer und

45 Prozent der Frauen des Landes

können lesen und schreiben. Viele

Kinder besuchen nie eine Schule,

sie bleiben zuhause, um zu arbeiten.

Bildung erscheint vielen Indern

insbesondere für die Mädchen unsinnig,

da sie meist schon früh verheiratet

werden und sich um Haus

und Kinder kümmern sollen. Hinzu

kommt, dass beispielsweise in den

weitläufi gen Regionen Rajasthans

im Umkreis von etwa 200 Kilometern

nur eine Schule existiert, die oft

auf männliche Schüler begrenzt ist.

Da in dieser Wüstengegend der Kamelkarren

meist als einziges Fortbewegungsmittel

in Frage kommt, mit

dem bereits 50 Kilometer aufgrund

der unwegsamen Sandpfade kaum

an einem Tag bewältigt werden

können, haben Kinder aus entlegenen

Gebieten keine Möglichkeit,

eine Schule zu besuchen.

Aufgrund dieser Situation hat

die Entwicklungshilfeorganisation

Plan International in Zusammenarbeit

mit einer in Rajasthan agierenden

NGO namens Urmul Trust, in

Lunkaransar, einem Dorf etwa 70

Kilometer nördlich der Stadt Bikaner,

seit 1998 ein Camp für Mädchen

aufgebaut. Im „Balika Shivir“,

wie sie das Projekt genannt

haben, sollten alle Mädchen auch

die aus entlegeneren Regionen, für

einige Monate leben und lernen

können.

Um das Projekt durchzuführen,

brauchten die Mitarbeiter viel Geduld

und Durchhaltevermögen. Es

dauerte lange, bis die ersten Familien

ihre Töchter oder Schwiegertöchter

in die Obhut der Fremden

gaben, zudem die meisten Mitarbeiter

von Urmul Trust Männer

sind. Es gab zwar einige Lehrerinnen,

die sich um die Mädchen

kümmerten, dennoch fi el es den

Eltern schwer, Vertrauen zu der

Organisation zu fassen.

Für die Kinder, die oft nicht weiter

als bis zum nächsten Markt gereist

sind, um die landwirtschaftlichen

Jahreserträge zu verkaufen, ist

der lange Aufenthalt fern der Eltern

nicht minder erschreckend als für

die Eltern. Sie sehen fremde Menschen,

hören mitunter fremde Dialekte

und werden in einen vollkommen

neuen Tagesablauf eingefügt.

Mittlerweile hat Balika Shivir jedoch

seine Vertrauenswürdigkeit

bewiesen und immer mehr Familien

geben ihre Töchter in die Obhut

der Campleiter.

Die Mädchen verlieren ihre

Scheu rasch und fi nden Gefallen

am gemeinsamen Lernen, Essen

und Singen mit den rund 300 anderen

Mädchen und jungen Frauen. In

einem Achtstundentag werden hier

Englischunterricht, Rechnen, Hygienekurse

und gemeinsamer Gesang

und Tanz eingepasst – und die

Mädchen würden am liebsten noch

weiterlernen, so viel Spaß macht es

ihnen.

Durchschnittlich ein halbes

bis zu einem Jahr bleiben die

Mädchen im Camp, schlafen auf

mehrere große Räume verteilt

auf Decken und schließen enge

Freundschaften mit Gleichaltrigen

aus Regionen, die weit von ihrem

Heimatdorf entfernt sind – es ist

unwahrscheinlich, dass sie sie

nach der Schulzeit noch einmal

wieder sehen.

Die Schule gibt den Mädchen

eine reelle Chance auf dem Arbeitsmarkt,

die meisten jedoch werden

auch nach dieser Bildungszeit keine

Arbeit annehmen, sondern zuhause

bei ihren Familien bleiben. Aber

auch dort macht sich die positive

Wirkung der vergangenen Monate

bemerkbar, denn die Mädchen können

ihren Familien beim Errechnen

der Preise für das geerntete Getreide

helfen; sie wissen, wie wichtig

es ist, die Umgebung des Hauses

sauber zu halten und auch die hygienischen

Regeln im Umgang mit

kleinen Kindern beherrschen sie.

All das ist in den ländlichen

Regionen Indiens nicht selbstverständlich.

Die Kindersterblichkeit

ist sehr hoch und selbst die grundsätzlichen

Maßnahmen zur Abwendung

einfacher Infektionen sind unbekannt.

Urmul Trust betreut viele

Dörfer um Lunkaransar und klärt

ihre Bewohner über die Wichtigkeit

der Hygiene auf, um auch diejenigen,

die nicht in ihr Mädchencamp

kommen können, zu erreichen.

Bei dem Besuch eines Dorfes, das

erst vor kurzem in das Programm

der Organisation hineingenommen

wurde, wurde der Unterschied zu

den Dörfern, die schon seit längerem

von Urmul betreut wurden,

deutlich. Hier lagen kleine Kinder

auf dem Boden, steckten sich alte

Knochenreste in den Mund, die sie

wohl irgendwo gefunden hatten.

Ihre Haut war übersät von Fliegen

und ein etwa zweijähriger Junge

konnte sein rechtes Auge nicht

mehr öffnen, es war vollkommen

vereitert und zugeschwollen. Balika

Shivir und die Hygienebetreuung

sind nicht die einzigen Projekte

von Urmul Trust. Sie haben zum

Beispiel den Bau von Getreidespeichern

in verschiedenen Dörfern

in Rajasthan eingeleitet, versuchen

die alten Gesellschaftsstrukturen zu

lockern und unterstützen insbesondere

die benachteiligten Schichten.

Sie betreuen die Dörfer in wirtschaftlichen

Fragen und bieten erste

Hilfe bei Dürreperioden.

Im Jahr 2002 habe ich mehrere

Wochen in Lunkaransar verbracht.

Ich lernte, wie man Teller mit Sand

wäscht, weil Wasser in der Wüste

ein so kostbares Gut ist und dass

man Wespen ruhig auf der eigenen

Haut herumkrabbeln lassen kann.

„Tiere sind unsere Brüder, wenn

wir sie lassen, werden sie uns nichts

tun,“ sagte mir ein Projektmitarbeiter

damals. Die meisten Bewohner

Lunkaransars waren strenge Vegetarier,

lebten auf engsten Raum mit

ihren Nutztieren, Hunden, Hühnern,

Kühen sowie Kamelen und waren

ebenso von den Tieren abhängig,

wie die Tiere von ihnen.

Deepak, der Projektmitarbeiter,

arbeitete schon seit einigen Jahren

an den Projekten von Urmul Trust.

Am Anfang unterrichtete er die

Mädchen an der Mädchenschule

selbst, bis er einige soweit ausgebildet

hatte, dass sie selbst den Unterricht

weiterführen konnten. Er

selbst stammt eigentlich aus Delhi,

hat aber mit Urmul Trust seine Lebensaufgabe

gefunden. Er heiratete

eine Dorfbewohnerin und jeden

Tag, wenn er seine Arbeit an den

Projekten erfüllt hat, unterrichtete

er seine Frau in Mathematik.

Täglich fuhr ich mit ihm und

einigen Kollegen zu einem weiteren

Ort, der unter der Obhut der

Organisation stand. In Kalu, einem

etwa 50 Kilometer entfernten

Dorf, hielten wir bereits außerhalb

der Dorfmauern, vor zwei kleinen

Häusern, die, wie hier üblich, aus

getrocknetem Kuhdung bestanden.

Die Häuser hatten keine Türen nur

Öffnungen in der Wand und als der

Motor unseres Jeeps aufröhrte, liefen

einige Ziegen aus dem einen

Haus. Ich erfuhr, dass es sich hier

um zwei Familien der „Unberührbaren“

handelte, der Kastenlosen, die

von den anderen Bewohnern nicht

innerhalb der Dorfmauern geduldet

wurden. Deepak erzählte, dass er

die Dorfältesten davon überzeugen

wollte, diese Tradition aufzugeben,

aber dass dies schwer zu erreichen

sei. In Kalu gab es schon eine kleine

Dorfschule, in der Mädchen und

Jungen zusammen unterrichtet wurden,

was ohne Urmul Trust nicht

möglich gewesen wäre.

In einem anderen Dorf wurde ich

dem Dorfältesten vorgestellt und er

erzählte mir, dass ihn seine Enkelin

nun immer zum Markt begleitete,

wenn er sein Getreide verkaufen

wollte. Da sie als einzige Rechnen

gelernt hatte, konnte sie die Rechnung

der Händler kontrollieren und

leistete so dem gesamten Dorf eine

große Hilfe.

Ein weiteres Projekt, das Urmul

Trust ins Leben gerufen hat, ist

die Anleitung zur Schaffung von

Kunsthandwerk. Wenn die Ernte

aufgrund von Dürre ausfi el, mussten

die Wüstenbewohner früher

hungern. Der Verkauf von Stoffen

und Kunsthandwerk gab ihnen eine

Alternative, Geld zu verdienen.

Unmittelbar vor dem Schulgebäude

in Lunkaransar standen mehrere

Webstühle, an denen Tag für Tag

einige Männer des Dorfes arbeiteten.

Eine südindische Designerin,

Nandini, übernahm es, ihnen das

Weben beizubringen und die Muster

und Farben der Stoffe festzulegen.

Sie war 23 Jahre alt und eigentlich

für ein indisches Mädchen zu alt

zum Heiraten, wie sie mir in einer

ruhigen Minute lachend mitteilte.

Sie wohnte in einem kleinen Haus,

das aus drei Räumen bestand: Ein

großer Wohnraum, Küche und Dusche

mit Plumpsklo. Als ich während

meines Aufenthaltes in Lunkaransar

bei ihr einquartiert wurde,

überließ sie mir ihr Bett – eine Fläche

aus gefl ochtenen Seilen, die an

einem Holzgestell befestigt waren

und schlief selbst auf einer Decke,

die sie auf dem Steinboden ausbreitete.

Sie stammt aus Kerala und

wuchs in einer aufgeklärten Familie

auf. Ihre Eltern hatten nichts dagegen,

dass ihre Tochter selbständig

war und für ihre Arbeit quer

durch Indien reiste. Alles, was sie

forderten, war, dass sie im nächsten

Jahr endlich heiratete und davor

fürchtete sie sich, erzählte sie mir.

Als ich zwei Jahre nach meinem

Aufenthalt in Indien Lunkaransar

erneut besuchte, erfuhr ich. dass sie

mittlerweile in Namibia lebt und

bei einer anderen NGO arbeitete.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass

mit Bildung Grenzen überwunden

werden können.

Fernab der Zivilisation führen

die Menschen in Indien ein Leben,

das aus westlicher Sicht kaum vorstellbar

ist, weil es für uns zur Vergangenheit

gehört. Bildung, Hygiene

und Freiheit sind Wertgüter, die

hierzulande als Selbstverständlichkeit

gelten. Wir realisieren nicht

mehr, dass unser gesamtes Leben

darauf aufbaut.

Urmul Trust und Plan International

haben sich zum Ziel gesetzt,

die Bevölkerung Rajasthans für

diese wertvollen Güter empfänglich

zu machen, um ihr Leben

zu verbessern. Dieses Vorhaben

braucht seine Zeit, aber ganz langsam,

über die Generationen hinweg

werden sie in Indien einiges

Bewegen. ■

Standard